Kurskorrektur
Im Original “Script Change” von Beau Jágr Sheldon, aus dem Englischen übersetzt von Markus Widmer
Rollenspiele sind spannend, machen Spaß und lassen uns Abenteuer erleben, wie wir es sonst nicht könnten. Allerdings behandeln sie gelegentlich Themen, die manchen Menschen unangenehm sind. Manche mögen düstere Runden mit Splatter-Action oder wollen Spiele mit Sex und Romantik, während andere Blutorgien oder sexuelle Inhalte lieber diskret ausblenden.
Manchmal sind wir nicht darauf vorbereitet, wenn so etwas passiert. Manche Menschen kennen ihre eigenen Grenzen noch nicht alle. Vielleicht kennen sie sie, erwarten aber einfach nicht, dass sie die Tür eintreten und dahinter etwas finden, das Angst oder Unbehagen auslöst. Hier kommt Script Change – wir nennen es im Deutschen eine Kurskorrektur – ins Spiel.
Die wichtigsten Werkzeuge der Kurskorrektur sind Zurückspulen, Vorspulen, Pause und Zeitlupe. Es gibt auch noch einige zusätzliche Werkzeuge wie die Highlights, die Wiederholung oder das Ausklangsgespräch, auf die wir später eingehen.
Wenn ein*e Spieler*in oder die Spielleitung (SL) sich zu irgendeinem Zeitpunkt mit dem, was gerade im Spiel vorkommt, nicht wohl fühlen, dann kann er*sie eine Kurskorrektur vornehmen.
Stell Script Change immer vor der Charaktererstellung und dem Weltenbau vor. Eine Kurskorrektur kann auch beim Erzählen der Hintergrundgeschichte der Charaktere benutzt werden, wenn die Details zu düster oder zu albern werden, für Elemente der Welt wie Außerirdische oder Zombies oder für Motive wie Verrat oder Trauer.
Kurskorrekturen sollten ein Teil eures Gesprächs werden, ein Teil dessen, was ihr beim Spielen tut. Das kann alles sein vom Auslösen einer Pause zum Durchatmen oder für eine kurze Diskussion bis zu einem Ausklangsgespräch, bei der ihr Probleme der Runde durchgeht. Denkt daran, dass ihr zwar nicht füreinander Therapeut*in seid, ihr aber dennoch eure Grenzen gegenseitig respektieren und euch zuhören könnt, wenn es Bedenken gibt.
Am Anfang entscheidet ihr euch für eine „Altersfreigabe“ für eure Spielinhalte. Ihr könnt dabei die üblichen FSK-Freigaben benutzen oder eure eigenen erfinden! Grundsätzlich solltet ihr euch dessen bewusst sein, für welches Publikum ihr spielt – wird es jugendfreier Spaß für jedes Alter oder eher eine Vorstellung ab 18? Gibt es Sex? Blutige Details?
Diskutiert über bestimmte Inhalte, die ihr vielleicht generell meiden oder auf ein Minimum reduzieren wollt, wie zum Bespiel die Beschreibung von Alkoholismus oder Gedächtnisverlust. Es kann nützlich sein, diese Dinge aufzuschreiben, aber lasst dabei die Namen der Spieler*innen weg und bleib bei den Motiven. Niemand muss etwas beitragen, aber alle sollten die für sie problematischen Themen nennen können. Nehmt aufeinander Rücksicht, denn meist wollen alle nur sicher gehen, dass alle am Tisch Spaß haben – und manchmal machen angepasste Inhalte genau das möglich!
Nehmt euch auch Zeit dafür zu notieren, was die Leute gerne im Spiel sehen wollen – lustige, spannende oder einfach interessante Dinge. Seid bereit zu verhandeln, seid respektvoll und stellt sicher, dass ihr sowohl das Nicht-Gewünschte als auch das Gewünschte in dieser Diskussion und während des Spiels beachtet. Wenn Spieler*innen Kurskorrekturen benutzen und ein neues Thema als Problem aufscheint, dann solltet ihr es zur Nicht-Gewünscht-Liste hinzufügen.
Der Einfachheit halber sollte die SL „Zurückspulen“, „Vorspulen“, „Pause“ und „Zeitlupe“ auf je eine Karteikarte schreiben oder die Kurskorrektur-Karten ausdrucken.
Kurskorrektur – was bringt das?
Wenn du mit anderen Leuten spielst, solltest du immer zuerst über gegenseitiges Einverständnis sprechen. Fragt, was für alle am Tisch okay ist und was nicht, und fragt nach, bevor ihr irgendetwas macht, mit dem sich andere unwohl fühlen könnten. Ihr müsst auch die Erwartungen des Spiels klären – Stimmung, Inhalte, Elemente der Geschichte. Auch während des Spiels können sich solche Elemente ändern. Kurskorrekturen helfen dabei, problematische Elemente, die im Spiel aufkommen, anzusprechen bzw. sie zu erkennen, wenn sie unerwartet auftauchen.
Wie setzt du Kurskorrekturen ein?
Sag einfach „Zurückspulen“, „Vorspulen“, „Pause“, „Zeitlupe“, oder berühre die Kurskorrektur-Karte bzw. halte sie hoch. Am besten ist es, aus diesen Begriffen einen ganzen Satz zu machen, wie zum Beispiel: „Können wir diese Aussage zurückspulen? Mein Charakter würde das eigentlich gar nicht sagen!“, oder „Ich brauche eine Pause, das ist ziemlich heftig.“, oder sogar „Das fühlt sich wie der richtige Zeitpunkt an, um diese Szene zu beenden, können wir vorspulen?“.
Achte darauf, dass du auch wahrgenommen wirst. In der digitalen oder schriftlichen Kommunikation kannst du die Kürzel verwenden, um das entsprechende Werkzeug zu signalisieren. Du kannst auch ein Online-Würfeltool wie rollforyour.party verwenden, das Script Change integriert hat.
Nachdem du eines der Werkzeuge eingesetzt hast und die Situation geklärt ist, sag einfach „weiter“, tippe auf die Karte oder benutze das Kürzel.
Wenn ihr Highlights und Ausklangsgespräche einsetzt, wie später in diesem Dokument beschrieben, diskutiert das mit eurer Gruppe und macht es zur Routine, diese am Schluss eurer Spielsitzung durchzuführen.
Kürzel
<< Zurückspulen >> Vorspulen
|| Pause > Weiter
|> Zeitlupe !!< Wiederholung
Wie könnt ihr die unterschiedlichen Grundwerkzeuge einsetzen?
Ihr könnt die momentan agierende Person darum bitten, entweder zurück- oder vorzuspulen. Wenn du unangenehme Inhalte einfach überspringen willst – vielleicht willst du die Sexszene abblenden, die blutigen Details beim Ausweiden eines Charakters überspringen, oder einfach zum nächsten Punkt in der Geschichte weitergehen, um das Tempo hochzuhalten – dann setze Vorspulen ein.
Wenn etwas gesagt oder getan wurde, mit dem du nicht einverstanden bist, bitte darum, zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzuspulen, um dort das Spiel fortzusetzen. Sprich offen an, um welchen Inhalt es geht, und sei offen dafür, gemeinsam herauszuarbeiten, wohin sich die Geschichte von hier aus entwickeln soll.
Dieses Werkzeug sollte generell eher für kleinere Veränderungen und spezifische Probleme eingesetzt werden, die mit einer kurzen Diskussion und einer veränderten Entscheidung in der Szene aus der Welt geschafft werden können.
Du kannst auch eine Pause einfordern. Pausen sind dann sinnvoll, wenn es gerade zu heftig wird, du aber die Szene trotzdem weiterspielen willst. In der Pause müsste ihr die gerade gespielten Inhalte nicht diskutieren, es kann aber sinnvoll sein. Nach einer Pause kannst du dich immer noch dafür entscheiden, zurück- oder vorzuspulen. Du kannst sie aber auch einfach als kurze Unterbrechung der Handlung nutzen, in der du tief durchatmest, und danach ohne Veränderung oder Auslassungen weiterspielen. Du kannst so auch eine kurze Pause für persönliche Bedürfnisse anstoßen – Toilette, Hydrierung und so weiter – oder die Pause nutzen, um ein Thema zu diskutieren, das gerade hochgekommen ist, und damit zusammenhängende Bedürfnisse ansprechen.
Die Zeitlupe ist ein Mechanismus, mit dem du ausdrückst, dass du die nächste Szene langsam angehen möchtest. Wenn eine Person die Zeitlupe einsetzt, dann signalisiert sie, dass die folgende Szene neu oder heikel ist, oder vielleicht ein Thema beinhaltet, das Unsicherheit auslöst. Sie signalisiert damit der Gruppe, dass sie die Szene sorgfältig ausspielen möchte. Die Person, die diese Zeitlupe ausgelöst hat, sollte „weiter“ sagen, wenn das normale Spieltempo wieder aufgenommen werden kann.
Die Zeitlupe kann eingesetzt werden, wenn Spieler*innen auf Inhalte stoßen, von denen sie wissen, dass sie darauf sensibel reagieren, oder auch bei neuen Themen oder Inhalten. Die Gruppe sollte auf die Bedürfnisse des*der Spieler*in Rücksicht nehmen. Fahre mit dem geplanten Thema oder Inhalt fort, aber vergewissere dich gelegentlich bei der Person, die die Zeitlupe eingesetzt hat, ob es für sie weiterhin okay ist weiterzumachen. Das schafft den*die Spieler*in die Möglichkeit, sich beim Einsatz anderer Kurskorrektur-Werkzeuge sicher zu fühlen, ohne Angst zu haben, das Spiel zu unterbrechen.
Eine Zeitlupe kann auch am Anfang eines Spiels oder einer Runde eingesetzt werden, damit die Gruppe es langsam angehen kann, wenn die entsprechenden Themen vorkommen. Ihr könnt diese Themen auch für die SL auf Karteikarten schreiben.
Muss ich irgendetwas erklären?
Es ist immer gut, den anderen Spieler*innen und der SL zu erklären, was dich während der Runde oder bei einem spezifischen Inhalt irritiert hat. So haben alle ein klares Bild und es wird vermieden, dass es wieder zur gleichen Situation kommt. Wenn du dich wirklich unwohl dabei fühlst, ins Detail zu gehen, dann ist das in Ordnung. Nenne einfach das problematische Thema, damit es nicht wieder vorkommt.
Wenn du darüber reden willst, kannst du dafür eine Pause einsetzen und erklären, was gerade passiert. Die anderen Spieler*innen sollten zuhören. Es ist auch gut, solche Themen beim Ausklangsgespräch zu diskutieren. Denkt auch daran, zu respektieren wie viel ihr voneinander verlangt, und dass die anderen hier nur als Spieler*innen und möglicherweise als Freund*innen fungieren. Seid großzügig und habt gegenseitig Verständnis für eure persönlichen Grenzen.
Solltest du während der Diskussion etwas ansprechen, was möglicherweise ein Trauma einer anderen Person triggern könnte, warne die anderen vorab, damit sie sicher bleiben. Wenn sie kurz den Raum verlassen müssen, damit du das Thema ansprechen kannst, hab Verständnis dafür.
Was bedeutet es für die Geschichte, wenn wir Dinge ausradieren und so tun, als wären sie nie passiert?
Wenn du mit dem Standardwerkzeug zurückspulst, dann kann man sagen, dass die ursprünglichen Ereignisse nicht mehr Teil des Kanons dieser Geschichte sind und ihr neue Inhalte erschafft. Ihr könnt das aber auch in einen anderen Kontext setzen, indem ihr sie als Traum oder filmartige Vorhersage einer möglichen Auswirkung beschreibt. Manchmal bitten Spieler*innen auch um einen Perspektivenwechsel für die ursprüngliche Szene, oder um einen für sie sichereren Kontext. Besprecht miteinander, wie ihr das handhaben mögt, und was das Zurückspulen in eurer Erzählung bedeuten soll.
Das letzte Wort hat jedoch jene Person, die das Werkzeug eingesetzt hat – in manchen Fällen wollen Leute einfach auch sagen, dass dies nicht passiert ist und auf eine erzählerische Repräsentation verzichten. Wenn das die für sie sicherste Variante ist, dann müssen wir das respektieren – genau so, wie wir in einer anderen Situation den Wunsch respektieren sollten, dass das Zurückspulen als Teil der Fiktion dargestellt wird, wenn der*die Nutzer*in des Werkzeugs das so möchte.
Was könnt ihr noch tun, um euer Spiel mit Kurskorrekturen zu verbessern?
Es gibt viele Möglichkeiten, aber zwei besondere Optionen sind die Highlights und die Wiederholung. Ausklangsgespräche eignen sich perfekt für das Ende einer Spielsitzung.
Mit der Wiederholung setzt du eine Pause direkt nach einer Szene ein, um außerhalb der Rolle das, was gerade passiert ist, zu diskutieren. Sie ist ein Metaspiel-Werkzeug, kann aber auch sicherstellen, dass alle dasselbe Verständnis einer Szene haben. Das funktioniert besonders gut, wenn ihr intensive soziale Szenen oder komplizierte Action spielt, oder wenn ihr längere Szenen habt, bei denen vielleicht nicht alle mitkommen.
Die Highlights kommen am Ende einer Runde. Hier geht es nur ums Positive – alle sollen erzählen können, was ihnen an der Runde gefallen hat. Jede*r Spieler*in sollte die Möglichkeit haben, eine spezifische Szene oder Interaktion zu nennen, auch die SL. Nachdem es kaum zu vermeiden ist, dass Spieler*innen auch negative oder konstruktive Rückmeldungen zum Spiel haben, sollten alle Runden auch Ausklangsgespräche als optionales Werkzeug haben – bei intensiv emotionalen Spielen sind sie höchst empfehlenswert.
Beim Ausklangsgespräch hat die Gruppe die Möglichkeit, alles anzusprechen, was geschehen ist und möglicherweise diskutiert werden sollte, auch konstruktives und negatives Feedback. Es lohnt sich, diese Besprechungen zur Gewohnheit zu machen. Vielleicht wollen einige von euch darüber reden, dass eine bestimmte Handlung im Spiel ihre Grenzen überschritten hat und sie nicht Pause oder Zurückspulen einsetzen wollten oder konnten – oder etwas hat euch emotional berührt und ihr wollt euch aussprechen.
Wir wollen eine unterstützende Umgebung bieten, und niemand sollte jemand anderem sagen, dass seine*ihre Gefühle „falsch“ sind. Konstruktive Kritik ist gut, auch im Hinblick auf Entwicklungen des Plots, fehlendes Gleichgewicht beim Charakterfokus oder Regelunstimmigkeiten. Nutzt das Ausklangsgespräch, um über die Runde und mögliche Verbesserungen zu sprechen, und wie sie auf die Spieler*innen und die SL gewirkt hat. In diesem Gespräch sind alle gleichberechtigt.
Beim Ausklangsgespräch solltet ihr auch Themen anbringen, die im Laufe der Runde vorgekommen sind und weiterer Diskussion bedürfen, auch wenn es harte Themen sind. Niemand sollte sich dazu gedrängt fühlen, ihr persönliches Trauma oder intime Details über die Gründe ihres Unbehagens preiszugeben, aber sie sollten die Möglichkeit haben, laufende Probleme anzusprechen. Kurskorrektur-Werkzeuge können im Moment des Geschehens, aber auch und eingesetzt werden, sodass du während der Runde wenn nötig jederzeit zurückspulen kannst, um dann das entsprechende Thema im Ausklangsgespräch näher zu diskutieren, solange alle am Tisch sich damit wohl fühlen.
Es kann sein, dass sich jemand nicht dabei wohl fühlt, das Thema während des Ausklangsgesprächs offen zu diskutieren. Schafft dann die Möglichkeit, eine E-Mail bzw. eine Nachricht auszuschicken, oder das Gespräch auf später zu verschieben. So kann sichergestellt werden, dass sich alle wohlfühlen und auskennen.
Wie bereits erwähnt, solltet ihr die anderen warnen, wenn ihr etwas erzählen wollt, dass möglicherweise die Traumata anderer triggert, damit sie sich sicher fühlen können. Respektiert auch, wenn sie sich kurz entschuldigen müssen, damit du die heiklen Inhalte ansprechen kannst, weil sie auch dich besser unterstützen können, wenn es ihnen gut geht.
Einige Fragen für Das Ausklangsgespräch
Auf welche Weise würdest du eine bestimmte Erfahrung der heutigen Runde verbessern?
Welche Gefühle erlebst du gerade, und wie sind sie mit der Runde verbunden?
Wie können andere Spieler*innen dich dabei unterstützen, alles, was dir wichtig ist, während der Runde anzusprechen, auch Kurskorrekturen?
Was hast du während der heutigen Runde gelernt, was nimmst du dir für die Zukunft mit?
Nenne einen positiven Gedanken aus der heutigen Runde und eine Verbesserungsmöglichkeit für zukünftige Runden.
Script Change wird in englischer Sprache regelmäßig aktualisiert auf http://briebeau.com/thoughty/script-change/. Script Change steht unter einer Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International Lizenz.